„Schwerwiegende“ Beeinträchtigung der Lebensgestaltung des § 238 StGB – Ein schwerwiegender Fehler?

Für Beobachter strafrechtlicher Entwicklungen seit der Einführung des § 238 in das Strafgesetzbuch stellt sich mehr und mehr die Frage, ob das tatbestandlich normierte Erfordernis der „schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung“ eines Stalkingopfers den im Jahre 2007 in das Strafgesetzbuch implementierten Nachstellungsparagraphen zu einem bloßen „Paragraphenplacebo“ macht.
Fast sechs Jahre nach Inkrafttreten des § 238 StGB lohnt es sich, Revue passieren zu lassen, inwieweit die Norm den tatsächlichen Begebenheiten in der strafrechtlichen Praxis gerecht zu werden vermag. Dies gestaltet sich insbesondere bei § 238 StGB insoweit als problematisch, da nur eine schmale Gratwanderung zwischen strafrechtlich relevantem Verhalten einerseits und sozialadäquaten Handlungsweisen andererseits besteht. Ein besonderes Augenmerk soll mit diesem Beitrag auf die Praxistauglichkeit des nach dem Wortlaut der Norm geforderten Tatbestandsmerkmals der „schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung“ des Opfers gelegt werden.

1.
In Nr. 1 bis 4 des § 238 StGB sind solche Verhaltensweisen eines Stalkers enumerativ aufgezählt, die als typische und standardisierte Handlungsmuster eines Stalkingtäters bekannt, immer wieder zu verzeichnen und geradezu charakteristisch für die Vorgehensweise eines Stalkers sind. Rein exemplarisch erwähnt sein sollen hier das wiederholte, penetrante Auflauern vor Wohnhaus oder Arbeitsstätte des Bestalkten, das mehrfache Anrufen, Kontaktaufnahmen per Mobilfunktelefon oder E-Mail sowie das Übersenden von Geschenken und Briefen.

Weil es sich bei diesen Verhaltensmustern – ausgeübt in begrenztem Maße – auch um sozialübliche Tätigkeiten handelt – bedurfte es für die Feststellung, ob für das Bejahen einer Straftat bloßes Sozialverhalten überschritten ist, eines einschränkenden gesetzlichen Korrektivs. Dies findet sich in § 238 StGB in dem Erfordernis eines „beharrlichen“ Handelns des Täters.

Was unter diesen Begriff fällt und was nicht und wie oft ein Opfer bestalkt werden muss, um letztlich beharrlich im Sinne des Wortlautes zu handeln, wurde anhand diverser Rechtsprechung im Laufe der vergangenen Jahre definiert, geprägt und entsprechend gefestigt (so z.B. BGHSt 54, 189).

Auch wenn es mitunter ein schwieriges Unterfangen ist, abzugrenzen, ob durch die Handlungen des Stalkers sozialadäquates Verhalten hin zur Strafbarkeit erfüllt ist, so ist diese diffizile Abgrenzung doch anhand des Gesetzeswortlautes möglich (vgl. z.B. Fischer, § 238, Rn. 19) und auch unter opferkritischen Gesichtspunkten durchführbar. Ein Großteil der Stalkingfälle kann also mit den Tatbestandsvoraussetzungen des § 238 StGB und dem einschränkenden Korrektiv der Beharrlichkeit strafrechtlich erfasst werden.

2.
Nichtsdestotrotz gelangen eine Vielzahl dieser Fälle nicht zur Anklage, weil es an dem von dem Gesetzeswortlaut erforderlichen Taterfolg des Delikts, der „schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung“ des Opfers fehlt.

Nach dem Gesetzesinhalt der Norm kann ein Stalker, der alle strafrechtlich relevanten Tatbestandsmerkmale für das Vorliegen einer strafbaren Nachstellungshandlung erfüllt, strafrechtlich nur dann belangt werden, wenn das Opfer bedingt durch das Tun des Stalkers in seiner Lebensgestaltung „schwerwiegend beeinträchtigt“ ist.

Eine solche schwerwiegende Beeinträchtigung des Opfers ist dann gegeben, wenn das Opfer z.B. in eine andere Stadt umzieht bzw. seine Wohnung aufgibt, seinen Arbeitsplatz wechselt oder seine sozialübliche Erreichbarkeit durch Verheimlichung sämtlicher persönlicher Daten, wie z.B. durch eine Namensänderung zum Ausdruck bringt (vgl. Fischer, § 238, Rn. 24).

Nicht ausreichend soll es hingegen in der Regel sein, wenn das Opfer eine Fangschaltung aktiviert, seine Telefonnummer oder E-Mail Adresse wechselt, aus Vereinen austritt oder vorübergehend auf seine Freizeitaktivitäten verzichtet (vgl. Fischer, § 238, Rn. 23).

Das Erfordernis des Taterfolges der schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung führt in der (opfer)anwaltlichen Praxis dazu, dass § 238 StGB zu einem bloßen Paragraphenabstraktum verkümmert, der hierdurch bedingt dem Sinn und Zweck seiner Implementierung in keiner Weise gerecht werden kann.

3.
Ausschlaggebendes Kriterium für den Anstoß der damaligen Gesetzesinitiative war es insbesondere, auch ein solches Verhalten eines Stalkers unter Strafe zu stellen, das auch in die Kategorie des nur leichten Stalkings fällt.

In Abgrenzung zu schwerem Stalking, das auch insbesondere durch gewalttätige Handlungen des Täters geprägt ist (vgl. z.B. Meyer, ZStW 115, S. 254), ist charakteristisch für das leichte Stalking gerade, dass grundsätzlich sozialübliches Verhalten in einer solchen Intensität und Hartnäckigkeit ausgeübt wird, dass das Opfer einem regelrechten Psychoterror ausgesetzt ist, ohne eigenständige Möglichkeit, diesen zu unterbinden oder von sich abzuwenden (Nowicki, Diss. 2011, S. 24). In diesen Fällen stellt sich die Situation des Opfers oftmals so dar, dass es sich als Reaktion und Schutzmechanismus zur Verhinderung weiterer Nachstellungshandlungen eine neue Mobil- und Festnetztelefonnummer zulegt, eine Fangschaltung installieren lässt, bestimmte Wege zu Arbeit nicht mehr wählt, sich abends zu späteren Uhrzeiten nicht mehr nach draußen wagt, Freunde bittet, bei ihm zu übernachten oder zur Bewältigung vor Angst- Panik- oder Verfolgungssyndromen psychotherapeutische Beratung in Anspruch nimmt.

Alle diese aufgezeigten und wahrscheinlichsten Änderungen in dem Lebensalltag des Opfers haben eins gemein: Sie alle stellen nach hiesiger, oben aufgezeigter Rechtsprechung in der Regel keine „schwerwiegende Beeinträchtigung“ des Opfers in seiner Lebensgestaltung dar, was in der Praxis dazu führt, dass etliche Ermittlungsverfahren unter Bezugnahme auf den nicht erfüllten Taterfolg eingestellt werden und die Opfer von Seiten der Staatsanwaltschaften auf den Privatklageweg verwiesen werden und damit sich selbst überlassen bleiben. Dies wiederum führt im Ergebnis dazu, dass der Stalker weiter stalken kann, wenn das Opfer nicht seine Wohnung wechselt oder sich einen neuen Arbeitsplatz sucht.

4.
Dass dieses Ergebnis aus Opferschutzgesichtspunkten alles andere als befriedigend ist, liegt auf der Hand: Es ist nahezu offenkundig, dass der originäre Gesetzeszweck, nämlich auch solches Stalking als Straftat zu erfassen, welches gerade die Grenze von sozialüblichem Verhalten hin zur Strafbarkeit überschritten hat, mit dem Erfordernis der „schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung“ konterkariert wird. Mit den geforderten erhöhten Anforderungen an die Verwirklichung des Straftatbestandes hat sich der Gesetzgeber selbst in seinem Vorhaben gegeißelt; die vor fast sechs Jahren in Gesetzestext gegossene Initiative, hebt sich durch die in der rechtlichen Praxis kaum umsetzbaren Anforderungen selbst aus der Angel:

Wie erklärt der in der anwaltlichen Praxis tätige Opferanwalt seinem Mandanten, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt hat, weil der sich zum Robustsein zwingende Mandant trotz Stalkings gerne seine Arbeitsstelle beibehalten und auch seine Wohnung noch nicht aufgegeben hat? Welchen Sinn hat eine Norm, die integriert wurde, um Opfer zwar vor Taten zu schützen, die gerade die Grenze zum Strafbaren hin überschritten haben, deren Taterfolg jedoch so hochgesteckt ist, dass ein Erklimmen nur in krassen Fällen möglich ist?

Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob dem Gesetzeszweck nicht eigentlich viel mehr Rechnung getragen worden wäre, wenn der Tatbestand nicht nach einer „schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung“ verlangen, sondern eine bloße „Beeinträchtigung der Lebensgestaltung“ hätte genügen lassen.

Unter Zugrundelegung einer objektiven Betrachtungsweise im Sinne der so gern bemühten „Parallelwertung in der Laiensphäre“ wäre es hinsichtlich der Definition des Begriffs der „Beeinträchtigung“ sicherlich möglich, auch mit diesem Taterfolg gerecht Recht zu sprechen.
Hier muss sich der Gesetzgeber die Kritik gefallen lassen, inwieweit die Norm nicht lediglich zu reinem Symbolstrafrecht verkümmert ist. Sie vermag es jedenfalls in ihrer derzeitigen Ausgestaltung nicht, ihrem ursprünglichen Implementierungszweck gerecht zu werden.

Ein schwerwiegender Fehler.

Es hilft nichts, das Recht auf seiner Seite zu haben. Man muss auch mit der Justiz rechnen.

Dieter Hildebrandt